Was genau ist 'Gestalttherapie'?
Ich und Du
...und staunend entdecken, hinspüren und erleben, innehalten, langsamer werden und wahrnehmen, was hier und jetzt ist - das wirkt heilsam. So könnte Gestalttherapie am umfassendsten und kürzesten definiert werden.
Woher kommt der Begriff "Gestalttherapie"?
Gestalttherapie trägt ihren Namen nach der Gestaltpsychologie. Diese beschäftigt sich damit, wie jeder Mensch durch seine ganz persönliche Wahrnehmung seine eigene subjektive Wirklichkeit konstruiert. Alles Wahrgenommene wird dabei auf sinnvolle Weise organisiert und strukturiert. Einander ähnliche Wahrnehmungen werden unter der gleichen Kategorie abgespeichert und verhindert somit langfristig eine weitreichendere oder andersgerichtete Deutung.
Die Gestalttherapie beschäftigt sich mit diesen Problemen der Wahrnehmung, die in der Regel mit Ausblendungen, Vergessen, Verdrängen u.v.a. einhergehen, wenn das aktuell Wahrzunehmende von vorher gemachten Erfahrungen überlagert wird. Dann wird nicht mehr tatsächlich wahrgenommen, was da ist, sondern eher, was wir hoffen oder was wir befürchten.
Das in der Vergangenheit Erfahrene oder "Gelernte" wird so auf das Gegenwärtige projiziert, gemäß dem Motto: Es war schon immer so…es ist nie anders…!
Zwei einfache Beispiele für solche Projektionen:
1. Jemand hat in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit einem Vorgesetzten gemacht und ist jetzt wieder mit einem Vorgesetzten konfrontiert. Er wird nun alle Befürchtungen gegenüber Vorgesetzten bestätigt finden.
2. Jemand hat einmal schlechte Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gemacht. Ihm wird es dann schwerfallen, die Besonderheit eines neuen Menschen, dem man gerade begegnet, im Blick zu behalten. Die Gefahr besteht, dass er überflutet wird von all den aus der vergangenen Erfahrung stammenden Befürchtungen.
Geschichte der Gestalttherapie
Die ersten Ansätze, die später in die Gestalttherapie eingeflossen sind, wurden in den 1930er und 1940er Jahren von zwei deutschen Psychoanalytikern während des Nationalsozialismus im südafrikanischen Exil entwickelt: Fritz und Lore Perls. Ihre erste revolutionäre Tat bestand darin, dass sie den "sicheren" Platz hinter der Couch aufgegeben und sich dem Klienten gegenüber gesetzt haben. Damit symbolisierten sie, dass sie den Klienten als Gleichberechtigte begegnen wollten. Ende der 1940er Jahre übersiedelten sie nach New York, wo sie dem amerikanischen Schriftsteller und politischen Aktivisten Paul Goodman begegneten. Gemeinsam mit ihm entwickelten sie den Ansatz weiter und gaben ihm den Namen "Gestalttherapie". Bekannt wurde die Gestalttherapie – bedingt durch ihre Nähe zur sog. "Human- Potential - Bewegung", der psychologisch-spirituell-politischen Aufbruchbewegung junger Amerikaner – Ende der 1960er Jahre. Fritz Perls lebte und lehrte im Zentrum dieser Bewegung: in Esalen/ Big Sur, an der phantastischen kalifornischen Westküste etwa 200 km südlich von San Francisco.
Therapie - Gestalttherapie heilt durch Würdigung
Kommt ein Klient zur TherapeutIn, weil er/sie meint, mit einem Lebensproblem nicht mehr allein fertig werden zu können, dann stehen nicht Ratschläge und Erlernen neuen Verhaltens im Vordergrund, sondern die TherapeutIn lässt ihn/sie vorsichtig erleben, dass er/sie selbst in Wirklichkeit über große Kräfte verfügt, die ihm/ihr das Überleben ermöglichen. Durch die Würdigung dieser Kräfte kommt der Klient in Kontakt mit seiner Fähigkeit, Lösungen seines Problems für sich zufinden. Dieser Kontakt macht es ihm möglich, sich selbst, seine Mitmenschen und seine Umgebung so wahrzunehmen, dass er die Unterstützung spürt, die er daraus ziehen kann.
Häufig sind die heutigen Probleme das Ergebnis von früheren Problemlösungsversuchen.
Sie waren damals sinnvoll. Doch heute schränken sie eher ein. Das ist wie mit den Kinderschuhen. Vor einem Jahr passten sie wie angegossen. Heute sind sie viel zu klein.
Beispiel:
Ein Mensch gibt in jeder Situation nach bis er schließlich selbst nicht mehr recht weiß, was er will. Das Nachgeben, sich nicht durchsetzen war ursprünglich eine sehr sinnvolle Handlungsweise, wenn dadurch Gewalt verhindert, elterlicher Streit, Schläge, Strafen umgangen werden konnten. Heute jedoch wird es zum Problem – denn Gewalt und Streit gibt es nicht mehr zu verhindern, doch ein Gefühl für die eigenen Bedürfnisse, die eigenen Standpunkte ist noch nicht vorhanden.
Durch diese Haltung der Würdigung kommt der Klient in Kontakt mit seiner Fähigkeit, Problemlösungen für sich selbst zu finden. "Würdigung" heißt also, die Kraft zu spüren – eben: zu würdigen –, die in genau dem Verhalten liegt, das der Klient als "Problem" sieht.
In der Gestalttherapie geht es vor allem um die therapeutische Haltung, mit der Gestalttherapeuten die Klienten unterstützen, ihre eigene "organismische Selbstregulation" wieder in Gang zu bringen. Damit ist die bei jedem vorhandene Fähigkeit gemeint, seine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und die notwendigen Schritte einzuleiten, diese Bedürfnisse zu befriedigen.
Wenn die Bedürfnisbefriedigung klappt, schenken wir der organismischen Selbstregulation keine weitere Beachtung, vielmehr nur, wenn sie nicht klappt. Das geschieht leider relativ häufig. Denn in unserer Kultur haben wir nicht gelernt, auf unsere eigentlichen Bedürfnisse zu achten, sondern eher, sie nicht wahrzunehmen. Und bei dem, was wir tun, orientieren wir uns allzuoft nicht an dem, was wir selbst wollen, sondern daran, was andere von außen an uns herantragen.
Der Therapeut behandelt alle Klientinnen und Klienten als mündig, auch jene, die ihre eigene Mündigkeit noch nicht fest in ihren Besitz genommen haben. Dabei wird der Gestalttherapeut eine Vielzahl von Methoden so anwenden, wie es der Persönlichkeit des Klienten und seiner eigenen Persönlichkeit entspricht – therapeutische Gespräche, Gewahrseinsübungen, Arbeit mit inneren Dialogen, Rollenspiele, Dialoge mit abwesenden Personen, körperorientierte Interventionen und kreative Ausdrucksmittel wie Ton, Papier und Farbe etc.